In der Provinz, in der ich
aufgewachsen bin, habe ich am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn man den
engen Rahmen verlässt, der innerhalb einer Gesellschaft als angemessen gilt. Beispielsweise,
weil man so etwas Exotisches wie Schriftsteller werden will. Oder als Mann
lange Haare trägt. Oder überhaupt die männlichen Rollenklischees nicht erfüllt,
weil man sich weder für Sport noch für Autos interessiert, keinen Führerschein
macht, kein Bier mag und keinen Rasenmäher reparieren kann.
Aus diesem Grund habe ich ein
Leben lang leidenschaftlich für das Recht auf Individualität gestritten, das
Recht, anders sein zu dürfen, mit einem Wort: für Vielfalt. Heutzutage dabei zusehen
zu müssen, wie die Totengräber der Demokratie diesen Begriff kapern, um ihn in
übelster Orwell’scher Manier in sein Gegenteil zu verkehren, ist mehr, als ich
ertragen kann.
Sie schwätzen von Vielfalt und
schränken den akzeptierten Bewegungsspielraum von Männern schlimmer ein, als es
die Traditionalisten je taten, denunzieren alles, was Männer anders machen als
Frauen, reduzieren ihre Wahlmöglichkeiten gegen Null, werten ihre Leistungen ab:
Philosophie und Wissenschaft, Kultur und Technik, überhaupt alles, was Männer
erdacht und geschaffen haben, und begegnen jeder ihrer Äußerungen mit
Misstrauen. Sie schwätzen von Vielfalt und versuchen, die Unterschiede zwischen
den Geschlechtern einzuebnen, indem sie diese für konstruiert erklären. Sie
schwätzen von Vielfalt und erfinden zahllose neue Geschlechter, verlangen aber,
dass sich all diese Geschlechter gleich verhalten sollen.
Ihr Paradies ist der kleinste
gemeinsame Nenner. Weg mit unterschiedlichen Lebensentwürfen, abweichenden
Meinungen, individuellen Entscheidungen! Weg mit den Errungenschaften der
Aufklärung, weg mit Kant und Rousseau, weg mit Sachverstand, Kritikfähigkeit
und Begründungen! Weg mit Wagemut und Reifeprozessen, weg mit der Bereitschaft
zu lernen und an sich zu arbeiten, lasst uns alle in Watte packen und mit
Triggerwarnungen und Hate-Speech-Kampagnen verhindern, dass Menschen ihren
Horizont erweitern oder sich aus der Masse abheben! Vielfalt bedeutet jetzt
Gleichmacherei.
Es ist kein Zufall, dass
diejenigen, die dem Gott der Gleichheit huldigen, alles tun, um Individualität
und Identität zu zerstören. Sie propagieren das Hin- und Herwechseln zwischen
den Geschlechtern, als sei Geschlechtsidentität lediglich eine Frage der Mode.
Sie ersticken jede lustvolle Begegnung zwischen Mann und Frau mit ihrer prüden
Sexualmoral und restriktiven Gesetzen und sexualisieren zugleich Kinder, um die
Austauschbarkeit der Geschlechter in deren Köpfen zu verankern. Sie reduzieren
Menschen auf allzeit verfügbare Körper und nennen es allen Ernstes
„Sexualpädagogik der Vielfalt“. Sie tun all das und zerstören darüber hinaus
die natürliche Beziehung zwischen Eltern und Kindern, während sie gleichzeitig
die Provisoriumsfamilie glorifizieren, weil sie den Unterschied zwischen
Vielfalt und Beliebigkeit nicht begreifen.
Mehr noch: Indem sie der Suche
nach den eigenen Wurzeln eine verdächtige politische Tendenz unterstellen,
besetzen sie Identität mit Angst. Literatur und Kunst des eigenen Kulturkreises
zu schätzen, Ovid, Goethe, Shakespeare kennenzulernen, Mathematik und Physik
verstehen zu wollen, sich auf abendländisches Denken einzulassen und mit abendländischen
Werten auseinanderzusetzen, wird als anrüchige Beschäftigung mit den verhassten
weißen Männern verunglimpft. Das Schwenken von Deutschlandfahnen während eines
Fußballspiels gilt als Beweis für eine finstere Gesinnung. In Kitas wird auf
christliche Rituale verzichtet, und Begriffe wie „Weihnachten“ darf man
nur noch schamhaft aussprechen, weil sie angeblich jemanden, der aus einem
anderen Kulturraum kommt, verstören könnten. Aber wer die eigene Kultur
verleugnet und alle Errungenschaften seiner Vorväter abschaffen will, hat keine
Zukunft. Wer bereitwillig seine Wurzeln kappt, verkümmert. Warum sollte es mich
verstören, wenn Muslime den Ramadan begehen? Warum sollte es Muslime stören,
wenn wir Weihnachten feiern? Durch eine fremde Kultur fühlt sich nur der bedroht,
der keine eigene hat.
Absurderweise setzen diese Leute
gleichzeitig alles daran, jeden einzuschüchtern, der sich durch die Begegnung
mit dem Fremden inspirieren lässt. Weiße, die Dreadlocks tragen, Karnevalsteilnehmer,
die sich indianischen Federschmuck ins Haar stecken, Westeuropäer, die Yoga
praktizieren, Musiker, die Crossovermusik machen, sie alle betreiben angeblich
eine Form von Imperialismus. Traditionelle Gerichte, traditionelle Tänze, traditionelle
Begriffe – nichts davon darf man übernehmen, will man sich nicht dem Vorwurf
der „kulturellen Aneignung“ aussetzen. Als würde man Kulturen etwas stehlen,
wenn man sich durch sie bereichern lässt. Eine solche Vorstellung entlarvt die
Kaltherzigkeit dieser kulturellen Geizhälse. Menschen, die keine Liebe in sich
tragen, können eben nicht begreifen, dass etwas mehr werden kann, wenn man es
teilt. Ihr Ideal sind keine offenen Räume der Begegnung, sondern viele
kleine Gefängnisse, durch deren vergitterte Fenster sich die voneinander
getrennten Gruppen zuwinken können. Uniformzwang und kulturelle Apartheid, das
ist die neue Vielfalt.
Und ist überhaupt eine üblere
kulturelle Aneignung denkbar als die von Privilegierten, die das Anliegen von
Benachteiligten und deren Kampfparolen instrumentalisieren, um sich selbst als
Kämpfer für Gerechtigkeit zu stilisieren?
All diese einengenden
Lebenskonzepte, die uns Stück für Stück die Luft zum Atmen nehmen, werden
heutzutage mit dem Wort „Vielfalt“ geadelt, jeglicher Realität zum Trotz. Wer
ist wohl eher für Vielfalt – derjenige, der dem anderen zubilligt, seinen
Lebensweg selbst zu bestimmen, oder derjenige, der ihm vorschreiben will, wie
er zu leben hat? Derjenige, der Menschen ermuntert, zu unverwechselbaren
Persönlichkeiten heranzureifen, oder derjenige, der sie zu einer gesichtslosen
Masse formen will? Zu eingeschüchterten Menschen, die ängstlich darauf bedacht
sind, nicht aufzufallen, zu jenen Arbeitsdrohnen, die sich offenbar George
Soros und die anderen milliardenschweren Unterstützer von Genderismus und
Wehleidigkeit wünschen. Ihr Ideal ist der entwurzelte Mensch, denn nur er ist jederzeit ausbeutbar
in einer Welt globaler Gleichgültigkeit.
Einen Menschen zu lieben
bedeutet, ihn in seiner Einzigartigkeit anzunehmen. Wer ihm diese
Einzigartigkeit abspricht, der raubt ihm damit seine Persönlichkeit, seine
Würde und seine Seele. Wer Individualrechte zugunsten von Kollektiven
abschaffen will, der will nicht, dass Menschen sich entfalten und ihre
Möglichkeiten entdecken. Der leugnet damit zugleich auch individuelle
Verantwortung für die eigenen Handlungen und die Chance, sich zu verändern und
an seinen Fehlern zu wachsen. Wer Respekt fordert und mithilfe von politischer
Korrektheit Meinungsdiktatur betreibt, wer Verschiedenartigkeit propagiert und
auf Gleichschaltung zielt, wer von Freiheit schwatzt und Unterordnung meint,
gibt lediglich geistige Armut als Reichtum aus. Im Würgegriff der Demagogen ist
„Vielfalt“ zu einem Begriff geworden, mit dem genau das zerstört wird, wofür
die Sprachverdreher angeblich eintreten.
"...weil sie den Unterschied zwischen Vielfalt und Beliebigkeit nicht begreifen."
AntwortenLöschenSehr treffend formuliert. Die inhärente Widersprüchlichkeit dieses Denkens wird von mal zu mal stärker. Während in den Neunzigern noch "die Schwulen" die angesagte Minderheit war, müssen heute immer mehr Opfergruppen entwickelt werden, um den Ofen am Laufen zu halten. Konflikte vorprogrammiert, insbesondere innerhalb dieser Gruppen.
Hervorragende Analyse.
Danke!
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