Wenn man in Vienenburg auf dem
Bahnhof umsteigt, was ich gelegentlich auf Lesereisen tue, kann man auf einem
Schild am Bahnhofsgebäude lesen: „Ältester, noch erhaltener Bahnhof
Deutschlands“.
Eine Grammatikregel besagt, bei
Aufzählungen wird zwischen zwei gleichwertigen Satzgliedern ein Komma gesetzt –
ich vermute, dies ist der irrige Gedankengang, der für die Schreibweise
verantwortlich ist. Nur dass es sich eben nicht um gleichwertige Satzglieder
handelt, in diesem Fall würde das Komma nämlich ein „und“ ersetzen: „Ältester
und noch erhaltener Bahnhof Deutschlands“. Was offensichtlich Unsinn ist. Den
Titel des ältesten Bahnhofs beanspruchen mindestens noch Niederau, Belvedere
und Braunschweig, und „noch erhalten“ ist nichts Besonderes, diese Beschreibung
dürfte auf Hunderte von Bahnhöfen hierzulande zutreffen. Gemeint ist: Von allen
noch erhaltenen Bahnhöfen Deutschlands ist dies der älteste. Und damit ist
„ältester“ eine nähere Spezifizierung von „noch erhaltener“ und kein
gleichwertiges Satzglied.
Aus ähnlichen Gründen heißt
Molieres bekanntes Stück korrekt Der
eingebildet Kranke, nicht Der
eingebildete Kranke, weil die Titelfigur nicht eingebildet und krank ist,
sondern sich lediglich einbildet, krank zu sein.
Ich bin kein Sprachpurist. Ich
verbessere niemanden, der nach „wegen“ den Dativ gebraucht, und wenn mein
türkischer Gemüsehändler Nektarin
schreibt oder Petersiele oder gar Greyfurt für Grapefruit, dann weckt das
allenfalls ein Schmunzeln bei mir.
Aber wir reden hier weder von
allmählich gewandeltem Empfinden an der Basis, noch von den Schwierigkeiten von
Fremdsprachlern mit der deutschen Sprache. Ärgerlich an dem Schild in
Vienenburg ist, dass dort mal wieder der Beweis angetreten wird, wie wenig
deutsche Institutionen von ihrer Muttersprache verstehen.
Mit dieser Erkenntnis im
Hinterkopf wird einem auch klar, warum der deutsche Untertanengeist in
vorauseilendem Gehorsam Sprachdiktate einer ideologisch getriebenen Minderheit
übernimmt und wie in Hannover ein ohnehin schwer verständliches Bürokratendeutsch
aus opportunistischen Gründen noch unlesbarer macht. Wer von einer Sache keine
Ahnung hat, wer wie Hannovers Bürgermeister schon Schwierigkeiten hat, den Unterschied
zwischen Empfehlung und Verordnung zu verstehen, und eine autoritäre Einschränkung
des Sagbaren mit Vielfalt verwechselt, beugt sich eben einfach der Macht oder
den lautesten Schreihälsen.
Mit seiner Sprachverordnung macht
Bürgermeister Schostok den Bürgern der Stadt zugleich deutlich: Es ist uns
egal, ob ihr versteht, was wir sagen, wir verachten euch sowieso. Ihr seid
schließlich bloß das Fußvolk, das zu fressen hat, was wir ihm hinwerfen.
Statt feministische Propaganda
hätte er lieber Montaigne lesen sollen: „Da wir uns miteinander nur durch das
Wort verständigen können, verrät, wer es fälscht, die menschliche Gemeinschaft.
Das Wort ist der einzige Weg, auf dem wir unseren Willen und unser Denken
austauschen, es ist der Mittler unserer Seele. Wenn es uns verloren geht, geht
der Zusammenhalt zwischen uns verloren, und wir haben keine Kenntnis mehr
voneinander. Wenn es uns betrügt, zerstört es all unseren Umgang und zerreißt
alle Bande des menschlichen Miteinanders.“ (Essais
II, 18: Wenn man einander des Lügens bezichtigt).
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Gunnar