Im Aquarium

Im Aquarium

Donnerstag, 4. April 2019

Sprechen Sie noch Deutsch oder schon Untertanisch?

Wenn man in Vienenburg auf dem Bahnhof umsteigt, was ich gelegentlich auf Lesereisen tue, kann man auf einem Schild am Bahnhofsgebäude lesen: „Ältester, noch erhaltener Bahnhof Deutschlands“.


Eine Grammatikregel besagt, bei Aufzählungen wird zwischen zwei gleichwertigen Satzgliedern ein Komma gesetzt – ich vermute, dies ist der irrige Gedankengang, der für die Schreibweise verantwortlich ist. Nur dass es sich eben nicht um gleichwertige Satzglieder handelt, in diesem Fall würde das Komma nämlich ein „und“ ersetzen: „Ältester und noch erhaltener Bahnhof Deutschlands“. Was offensichtlich Unsinn ist. Den Titel des ältesten Bahnhofs beanspruchen mindestens noch Niederau, Belvedere und Braunschweig, und „noch erhalten“ ist nichts Besonderes, diese Beschreibung dürfte auf Hunderte von Bahnhöfen hierzulande zutreffen. Gemeint ist: Von allen noch erhaltenen Bahnhöfen Deutschlands ist dies der älteste. Und damit ist „ältester“ eine nähere Spezifizierung von „noch erhaltener“ und kein gleichwertiges Satzglied.

Aus ähnlichen Gründen heißt Molieres bekanntes Stück korrekt Der eingebildet Kranke, nicht Der eingebildete Kranke, weil die Titelfigur nicht eingebildet und krank ist, sondern sich lediglich einbildet, krank zu sein.

Ich bin kein Sprachpurist. Ich verbessere niemanden, der nach „wegen“ den Dativ gebraucht, und wenn mein türkischer Gemüsehändler Nektarin schreibt oder Petersiele oder gar Greyfurt für Grapefruit, dann weckt das allenfalls ein Schmunzeln bei mir.

Aber wir reden hier weder von allmählich gewandeltem Empfinden an der Basis, noch von den Schwierigkeiten von Fremdsprachlern mit der deutschen Sprache. Ärgerlich an dem Schild in Vienenburg ist, dass dort mal wieder der Beweis angetreten wird, wie wenig deutsche Institutionen von ihrer Muttersprache verstehen.

Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf wird einem auch klar, warum der deutsche Untertanengeist in vorauseilendem Gehorsam Sprachdiktate einer ideologisch getriebenen Minderheit übernimmt und wie in Hannover ein ohnehin schwer verständliches Bürokratendeutsch aus opportunistischen Gründen noch unlesbarer macht. Wer von einer Sache keine Ahnung hat, wer wie Hannovers Bürgermeister schon Schwierigkeiten hat, den Unterschied zwischen Empfehlung und Verordnung zu verstehen, und eine autoritäre Einschränkung des Sagbaren mit Vielfalt verwechselt, beugt sich eben einfach der Macht oder den lautesten Schreihälsen.

Mit seiner Sprachverordnung macht Bürgermeister Schostok den Bürgern der Stadt zugleich deutlich: Es ist uns egal, ob ihr versteht, was wir sagen, wir verachten euch sowieso. Ihr seid schließlich bloß das Fußvolk, das zu fressen hat, was wir ihm hinwerfen.

Statt feministische Propaganda hätte er lieber Montaigne lesen sollen: „Da wir uns miteinander nur durch das Wort verständigen können, verrät, wer es fälscht, die menschliche Gemeinschaft. Das Wort ist der einzige Weg, auf dem wir unseren Willen und unser Denken austauschen, es ist der Mittler unserer Seele. Wenn es uns verloren geht, geht der Zusammenhalt zwischen uns verloren, und wir haben keine Kenntnis mehr voneinander. Wenn es uns betrügt, zerstört es all unseren Umgang und zerreißt alle Bande des menschlichen Miteinanders.“ (Essais II, 18: Wenn man einander des Lügens bezichtigt).

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Vielen Dank für deinen Kommentar. Sobald ich ihn gelesen und geprüft habe, schalte ich ihn frei.
Viele Grüße
Gunnar